Nachhaltigkeit

Die jüngsten Debatten um Klimawandel, Migration, Pandemie, Digitalisierung und Anthropozän tragen maßgeblich dazu bei, Nachhaltigkeit nicht mehr allein mit Blick auf ihre ökologischen und technischen Aspekte, sondern zusehends unter Einzug von kulturellen und sozialen Dimensionen zu thematisieren. Die seit mehr als drei Jahrzehnten steil ansteigende Karriere der semantischen Figur und Selbstbeschreibungsformel proklamiert ein gesteigert reflexives und solidarisches Menschenbild und etabliert sich als emotional, moralisch und normativ wirkungsmächtiges Leitschema für gesellschaftliche Normalitätsverständnisse und soziale Handlungsorientierungen. Was für höchst unterschiedliche Bereiche wie Ernährung, Familienleben, Haushaltsführung, Information, Bildung, Mobilität, Sicherheit, Gesundheit oder Gerechtigkeit, bis hin zur Konzeption von Geldanlagen und Studiengängen oder des Konsums von Kleidung und dem Einsatz von Software, entweder unbefragt blieb oder als probate Problemlösung galt, wird unter dem neuen Vorzeichen problematisch und diskussionswürdig – eingeschlossen der Frage, ob nicht sogar die Idee der Nachhaltigkeit selbst mehr Problem als Lösung ist. In dieser Situation sind die Kultur- und Sozialwissenschaften gefordert, die heuristische und analytische Bedeutung des Konzepts in seiner Komplexität und Prekarität theoretisch wie empirisch in den Blick zu nehmen und verkürzende, vereinfachende und vereinseitigende Perspektiven zu beobachten, zu erweitern und zu korrigieren.

Leitfragen

Geht es um nicht weniger, als um das Berücksichtigen und Bewahren von immer umfassenderen Ausschnitten der menschlichen Lebenswirklichkeit – Pflanzen und Tiere, Menschen, Ideen und Dinge, Planet und Weltall – für ein heute wie zukünftig gutes Leben, verwundert das Auftreten unterschiedlicher gesellschaftlicher Positionen kaum. Diese Entwicklung führt unweigerlich zu Paradoxien und Konflikten und damit direkt ins Zentrum des kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschens:

  • Für die Wirtschaftswissenschaft rücken die Bestrebungen und Prozesse der Vernachhaltigung dort ins Blickfeld, wo die ökonomisch handlungsleitenden Motive der Wachstumssteigerung und Gewinnmaximierung auf Gebote der Ressourcenschonung, der Notwendigkeit, Genügsamkeit und Enthaltsamkeit treffen.
  • Zugleich bedeuten die wachsenden Anforderungen zur Nachhaltigkeit im Untersuchungsfeld der Politikwissenschaft nicht nur das Spannungsverhältnis zwischen der Verantwortung moderner Staaten für die Stabilität ihrer gesellschaftlichen Institutionen einerseits und der Sicherung einer selbstbestimmten Lebensführung und Persönlichkeitsentwicklung ihrer Bürgerinnen und Bürgern andererseits neu zu fokussieren, sondern sich darüber hinaus der institutionellen Selbststeuerung des Staates in Richtung Nachhaltigkeit zuzuwenden.
  • Dieser Zugang impliziert vielfältige Schnittstellen zu Forschungsinteressen der Soziologie in den Bereichen der Motive, Strukturen und kommunikativen Praktiken von Akteurinnen, Trägergruppen und Opponenten mit ihren Ideologien, Utopien, Dystopien in auf Nachhaltigkeit hin orientierten Gesellschaften
  • Mit der kommunikativen Durchsetzung oder Aufrechterhaltung von gesellschaftlichen Ordnungskonstruktionen und Deutungshoheiten ist sogleich die unhintergehbare Medialität von Kultur und Gesellschaft angesprochen, wie sie Germanistik, Anglistik und Romanistik in Sprechweisen und Narrativen und Kunstwissenschaft in nicht primär sprachlichen oder textlichen Handlungs- und Objektformen kultur- und epochenvergleichend erforschen.
  • Nicht zuletzt trägt die Idee der Nachhaltigkeit mit ihrem kosmologischen Raum, Zeit und Sozialität weitumspannenden Ansatz unübersehbare Züge einer das Hier und Jetzt der Alltagswirklichkeit transzendierenden Diesseitsreligioen und berührt mit ihren Imaginationen, Legitimationen und ihrer Mission zur Bewahrung der Schöpfung das Forschungsgebiet der Theologie.