Tradition und Innovation
4. Landauer Bilderbuchtagung
Abstracts der Vorträge

Johanna Duckstein (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg)
Transformation der Märchen im Bilderbuch – Ein Blick auf aktuelle Erscheinungsformen und deren Rezeption bei Kindern
Märchen erweisen sich als tradiertes Kulturgut, welches nach wie vor einen hohen Stellenwert in der Gesellschaft hat. Insbesondere die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm sind seit ihrer Entstehung fester Bestandteil der Kinderliteratur geworden. Dass diese historischen Texte eine andauernde Relevanz haben, zeigt nicht nur ein Blick auf den aktuellen Buchmarkt, sondern auch die Vielfalt in den Adaptionen. Durch die Eröffnung neuer Deutungsräume auf narrativer Ebene sowie in der Überführung in verschiedene Medienformate wird das Potenzial der Märchen zur Transformation deutlich. Auch in Bilderbüchern werden Märchen adaptiert, umgeformt und damit aktualisiert. Ob als künstlerische Interpretationen, in Parodien oder als metafiktionales Spiel – Märchen erweisen sich als komplexes intermediales Phänomen.
Der Vortrag soll einen Blick auf verschiedene Aktualisierungsstrategien in Märchenbilderbüchern richten und darüber hinaus Einsichten in kindliche Rezeptionsprozesse bieten, in denen Bezugnahmen zwischen Tradition und Innovation deutlich werden.
Kathrin Heintz (RPTU in Landau)
Die Materialität aktueller Bilderbücher und ihre Bedeutung für Rezeptionsprozesse sowie die Anbahnung literarästhetischen Lernens im Unterricht
Der Vortrag befasst sich vorrangig mit der Frage, welche Rollen die Materialien, aus denen die Bilderbücher gefertigt sind, für Rezeptions- und Deutungsprozesse spielen. Er schließt damit u.a. an die Forschung von Monika Schmitz-Emans, die sich mit dem blätternden Erschließen von Büchern befasst, sowie an die materialästhetischen Überlegungen zum Bilderbuch von Simon Messerli, der diesen Aspekt unter ‚Sinnlichkeit‘ fasst, an. Dabei wird der Tatsache Rechnung getragen, dass Bilderbücher in materieller Hinsicht zunehmend aufwändig gestaltet werden und eine spannende materielle Gestaltung keineswegs allein den sogenannten ‚Spielbüchern‘ für Kleinkinder vorbehalten bleibt. Prägungen, Folierungen, die Kombination unterschiedlicher Papiersorten, Klappen oder per Lasercut-Verfahren produzierte Durchbrüche finden zunehmend Verbreitung und können bei zahlreichen Bilderbüchern als derart wesentlicher Teil der Erzählung angesehen werden, dass ihnen darin der Status einer verhältnismäßig eigenständigen Modalität zugestanden werden kann. Die Frage, welche Rolle das im Rezeptionsprozess spielt, soll ebenso aufgerissen werden, wie das Potenzial, das die Sinnlichkeit der Bilderbücher für den Deutschunterricht bietet.
Iris Kruse & Julian Kanning (Universität Paderborn)
Zwischen Bewahren und Zutrauen. Erzähl- und Darstellbarkeit des Holocaust im Kinder adressierenden Bilderbuch
Kinderliterarisches Erzählen vom Holocaust im Bilderbuch bewegt sich in einem produktiv herausfordernden Spannungsfeld. Wie lässt sich Kindern zeigen und erzählen, was geschehen ist? Wo liegen Grenzen des Zeig- und Erzählbaren? Und an welchen Prinzipien sind diese Grenzen orientiert? Der Vortrag bedenkt pädagogisch-psychologische, erinnerungskulturell-politische sowie produktions- und wirkungsästhetische Implikationen des Bilderbucherzählens vom Holocaust. Vorgestellt wird eine diese Implikationen berücksichtigende Typologie. Sie verdeutlicht bezogen auf konkrete Bilderbuchbeispiele, dass die adressat*innenbezogene Zumutbarkeit über alle typologischen Unterscheidungsmerkmale hinweg jegliches kinderliterarische Bilderbucherzählen vom Holocaust prägt.
Eingefasst und beeinflusst von gesellschaftspolitischen Diskursen erscheint das darstellungsstrategische Ringen um Zumutbarkeit von herausragendem Interesse auch für die erinnerungskulturelle Bildungsarbeit, der mit Holocaust-Bilderbüchern beachtenswerte Lern- und Erfahrungsgegenstände zur Verfügung stehen. Mit den Bilderbüchern Als die gelben Blätter fielen (2024) und Damals hieß ich Rita (2024) werden zwei aktuelle Titel auf zeitspezifische Ansätze und Formen einer ‚innovativen Zumutbarkeit‘ hin befragt.
Tobias Kurwinkel & Alina Behrend (Universität Hamburg)
Initialen, Typotaphern und Schriftschnitte – Zur Typographie im Bilderbuch
„Dringend“ müsse man sich um sie kümmern, um die Typographie im Bilderbuch, so Agnès Laube vor einigen Jahren in der Fachzeitschrift Buch & Maus. Was sie in puncto Produktion adressierte, lässt sich auf die Forschung zum Bilderbuch übertragen: Der Typographie, verstanden als Lehre von der ästhetischen, künstlerischen und funktionalen Gestaltung von Buchstaben, Satzzeichen und Schrift wurde – und wird noch immer – zu wenig Beachtung geschenkt.
Dieser Befund überrascht eingedenk der typografischen Entwicklung des Bilderbuchs in ästhetischer und buchgestalterischer Hinsicht, beispielsweise durch Bezugnahmen auf den Comic und die Graphic Novel: Typotaphern, wechselnde Schriftarten und Schriftschnitte, -größen und -farben erzeugen zunehmend ein Satzbild, das nicht mehr nur Informationen vermittelt, sondern als Teil des Bildes, als Schriftbildlichkeit bezeichnet werden kann. Hier möchten wir anknüpfen und die jüngere literarhistorische Entwicklung des Bilderbuchs aus Perspektive der Typographie nachzeichnen. Vorgelagert ist dieser Perspektivierung eine Bestandsaufnahme des Forschungsstands zum Thema, aus der wir ein Instrumentarium zur Bilderbuchanalyse von typographischen Elementen und Aspekten ableiten und an aktuellen Beispielen eruieren werden.
Hans ten Doornkaat (Weinfelden, Schweiz)
Tradition befragen, Innovation wagen. Vom multimodalen Medium her gedacht
Bilderbuchkunst braucht Innovation, Vermittlung reagiert da nicht immer angemessen. Davon zeugen bildnerische Traditionen, die auf der Strecke blieben, und ästhetische Neuentwicklungen, deren Glanz bald verblasste. Große Namen wie Wilhelm Busch und Ernst Kreidolf stehen für diese Zwiespältigkeit; nicht ihr Werk, sondern der Umgang damit. Die rückblickenden Einsichten sind auf die Gegenwart anzuwenden:
Die Multimodalität von Bilderbüchern ist in der heutigen Forschung unbestritten. Aber wie verhält sich Unterrichtspraxis zum aktuellen Angebot? Die medialen Entwicklungen – Silent Books, Kindercomics und Comicromane, aber auch Metakonstruktionen – machen deutlich, dass da nicht einfach ein Ausfransen klarer Gattungsränder stattfindet, sondern dass diese Formen zentrale Normalitäten von Bild-Text-Medien zeigen und deren Chancen ausmachen. Damit Engführungen der Tradition sich nicht wiederholen, ist ein lustvoller Umgang mit Mehrdeutigkeit anzustreben; mit Blick auf die Gesellschaft und entlang der im Medium Bilderbuch angelegten Ambiguität.
Die Lesart der Beispiele fußt in Literaturgeschichte und Illustrationstheorie und ist mehr von Verlagserfahrungen geprägt als von didaktischen Modellen. Das gilt für den Ansatz des Referates ebenso wie für seine Perspektiven.
Alexandra Ritter & Michael Ritter (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg)
„Ich habe euch heute ein Buch mitgebracht ...“ Zur Inszenierung von Bilderbüchern im Unterricht
Die Inszenierung von Bilderbüchern im Unterricht, also die bewusste Gestaltung der Bilderbuchbegegnung von Kindern durch und mit der Lehrperson im Sinne einer literarischen Erfahrung, dient nicht nur der Einstimmung und Motivierung der Bilderbuchlektüre und der Aufmerksamkeitslenkung. Inszenierungen beeinflussen die Auseinandersetzung mit diesem Lerngegenstand und damit auch das Verständnis des multimodalen Textes. Die Form von Präsentation und Textzugang lenken die Rezeption und eröffnen bzw. schließen Deutungsspielräume. Bei der Planung solcher Prozesse spielen die fachlichen und fachdidaktischen Orientierungen von Lehrpersonen eine zentrale Rolle. Im Vortrag möchten wir Ergebnisse einer qualitativ-empirischen Studie zu Bilderbuchinszenierungen von Studierenden im Unterricht vorstellen. Dabei wird rekonstruiert, wie die Orientierungen der angehenden Lehrpersonen die Konzeption der Inszenierung und die Reflexion der Durchführungserfahrungen prägen.
Gabriela Scherer & Jessica Vogt (RPTU in Landau)
Innovative jugendliterarische Text-Bild-Hybride – Potenzial und Herausforderungen
Innovative jugendliterarische Text-Bild-Hybride – Potenzial und Herausforderungen Multimodale Texte, bei denen die Bilder keine rein illustrative Funktion haben, trifft man aktuell vermehrt auch jenseits von Bilderbuch und Graphic Novel auf dem jugendliterarischen Buchmarkt an. So nutzen z.B. Papierklavier (2020) von Steinkellner (Text) und Gusella (Ill.) sowie Harte Schale, Weichtierkern (2022) von Travnicek (Text) und Szyszka (Ill.) das traditionelle Tagebuch bild- und schriftgestalterisch eigensinnig. Und die Welt, sie fliegt hoch (2024) von Jäger (Text) und Maus (Ill.) dockt zwar an die Tradition des Briefromans an, verschiebt die Kommunikation aber in virtuelle Text- und Sprachnachrichten und entwickelt das Storytelling dabei wie im Drama oder (Trick-)Film. Die gezeichneten Figuren tragen hier viel zur Ausdrucksstärke und Vielschichtigkeit der beiden Handlungsträger bei. Die Lektüre einer KI-generierten Inhaltszusammenfassung lässt einen schlecht informiert und wenig unterhalten zurück, genauso wie die Rezeption einer Hörproduktion ohne Betrachtung der multimodalen Sehflächen.
Der Beitrag steigt mit einem kurzen Überblick über aktuelle, innovative jugendliterarische Text-Bild-Hybride ein und stellt Ergebnisse einer kleinen explorativen Studie zu Herausforderungen und Potenzial von Und die Welt, sie fliegt hoch vor.
Klarissa Schröder & Elena Link (PH Heidelberg)
Tradition und Fehlinformation: Die Bauernhofidylle im Sachbilderbuch aus Perspektive der Human-Animal Studies
Unter Rückgriff auf den theoretischen Rahmen der Human-Animal Studies untersucht die vorliegende Studie die Repräsentation von Bauernhöfen in einer selektiven Stichprobe von Sachbilderbüchern. Ziel ist die systematische Identifikation und kritische Analyse dominanter visueller und narrativer Darstellungsformen im Hinblick auf potenzielle Fehl- und Desinformationen. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Diskrepanz zwischen der oftmals idyllisch-romantisierten Inszenierung landwirtschaftlicher Tierhaltung und der tatsächlichen Realität der Tierverarbeitung. Es wird herausgearbeitet, wie im Sachbilderbuch einerseits die enge Beziehung zwischen Mensch und Tier für die junge Zielgruppe betont wird, während zugleich wesentliche Aspekte der Tiernutzung und -ausbeutung weitgehend ausgeblendet oder verharmlost bleiben.
Ariane Schwab (PH Fribourg, Schweiz)
„Die letzten Monate haben wir im Kreis Büchlein angeschaut.“ (Nicht-)Handeln mit Literatur im Kindergarten: Zwischen Tradition und Innovation
Der Beitrag bietet einen Einblick in das laufende Dissertationsprojekt zum Umgang mit Literatur im Schweizer Kindergarten, welcher die Schuleingangsstufe für Kinder zwischen 4-7 Jahren darstellt. Dabei werden erste Ergebnisse der ethnografischen Forschung präsentiert. Im Mittelpunkt steht der Literaturgebrauch in alltäglichen, offenen und routinierten Unterrichtssituationen, welcher teilnehmend beobachtet wurde. Ausgangspunkt ist der im Lehrplan 21 verankerte Paradigmenwechsel hin zu Kompetenzorientierung: Literatur soll nicht mehr nur als Vermittlung von Inhalten verstanden werden, sondern als Ausgangspunkt für ästhetische, kommunikative und soziale Handlungen.
Die auf Grundlage methodologischer Prinzipien der Grounded-Theory analysierten Daten zeigen, dass tradierte Orientierungsmuster Lehrpersonen dazu veranlassen, Kindern im Umgang mit Bilderbüchern nur geringe Begleitung zu bieten. In diesem didaktischen Freiraum lassen sich jedoch Ansätze für innovative Praktiken identifizieren. Literatur erscheint hier als sozialer Konfigurationsraum, geprägt durch Zuschreibungen und Nicht-Wissen.
Michael Staiger & Ben Dammers (Universität zu Köln)
Bilderbücher aus dem Automaten? Zum Einfluss von Computertechnologie und Digitalität auf die Bilderbuchästhetik
Technologische Automatisierung hat die Ästhetik des Bilderbuchs seit jeher geprägt: von der Lithografie über den Offset-Farbdruck, digitale Grafikprogramme bis hin zu Zeichentabletts und Print-On-Demand-Systemen. Die aktuell ständig zunehmenden Möglichkeiten zur Generierung von Texten und Bildern mithilfe von Künstlicher Intelligenz markiert den jüngsten Schub in dieser Entwicklung.
Der Vortrag reflektiert die Beziehung zwischen Computertechnologie und Bilderbuch aus medienkulturwissenschaftlicher Perspektive und fragt, inwiefern der Einsatz digitaler Technologien nicht als Verlust von Originalität, sondern als kreativproduktiver Motor ästhetischer Innovation verstanden werden kann. Angesichts der aktuellen Flut von KI-generierten Bilderbuchpublikationen im Online-Selfpublishing stellt sich darüber hinaus die grundsätzliche Frage, wie sich Produktion, Distribution und Rezeption von Bilderbüchern in der Digitalität wandeln.
Bettina Uhlig & Carolin Pauke (Universität Hildesheim)
„...weil es so schön vorhersehbar unvorhersehbar ist“ – Zeitgenössische künstlerische Bilderbücher und bilderbuchbezogene zeichnerische Gestaltungspraxis
Zeitgenössische künstlerische Bilderbücher zeichnen sich durch spannungsvolle, vielschichtige und mit Texten „verflochtene“ Bildkonzeptionen aus; sie arbeiten mit Leer- und Unbestimmtheitsstellen, mit Mehrdeutigkeit, Irritation und Überraschungsmomenten. Über ein großes vielfältiges Spektrum bildnerischer Mittel ist es ihnen möglich, sensible Inhalte sichtbar zu machen. Eine Möglichkeit, die Bilderbuchbilder in ihrer Bild-Text-Komplexität und Bedeutungstiefe zu erschließen, ist das eigene bildnerische Tun, genauer: das narrative bilderbuchbezogene Zeichnen.
Der Vortrag befasst sich zum einen mit verschiedenen Bilderbuch-Bildkonzepten und ihren Schnittstellen zur Bildenden Kunst, zum anderen werden Erkenntnisse aus einer qualitativ-empirischen Studie mit Kindern einer dritten Jahrgangsstufe zum narrativen Zeichnen als verstehensfördernde Möglichkeit vorgestellt. Hierbei soll aufgezeigt werden, was eine zeichnerische Auseinandersetzung hinsichtlich des Erfassens und Verstehens komplexer Bilderbuch-Form-Inhalt-Zusammenhänge leisten kann.
Steffen Volz (PH Heidelberg)
Das Bild des Krieges – Krieg und Kriegsfolgen im Bilderbuch
Bilder des Krieges, fiktionale und faktuale, sind in allen medialen Formen allgegenwärtig und damit für Kinder und Jugendliche unschwer zugänglich. In Kunst und Literatur werden Krieg und Gewalt seit jeher gestaltet, rational gedeutet, emotional und ethisch bewertet sowie politisch interpretiert. Auch in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur liegt eine beachtliche Anzahl an Erzählungen über Krieg, Kriegsfolgen und entsprechende Gewalterfahrungen vor. Im Unterschied dazu werden Krieg und Kriegsfolgen im zeitgenössischen Bilderbuch (noch) vergleichsweise selten thematisiert. Aus der Darstellung des Krieges im Bilderbuch lassen sich nicht nur Rückschlüsse auf das jeweilige Kindheitsbild, sondern auch auf die gesellschaftliche Bewertung von Krieg und militärischer Gewalt ziehen.
Anhand eines Vergleiches zwischen historischen und zeitgenössischen Bilderbüchern soll herausgearbeitet werden, welches Bild des Krieges jeweils entworfen wird, welche Emotionen damit bei den kindlichen RezipientInnen erzeugt werden sollen, welche Darstellungs- und Emotionalisierungsstrategien dazu eingesetzt werden und welche politischen Einstellungen und ethischen Bewertungen damit angezielt werden.